NAGEL-Redaktion – Depressionen bei Kindern und Jugendlichen

Mit Bauchweh in die Schule

Kinder leiden zunehmend an depressiven Erkrankungen. Die Symptome sind vielfältig und häufig schwer zu erkennen. pluspunkt sprach mit Dr. med. Ulrich Rabenschlag, Diplompsychologe und ehemaliger Oberarzt an der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Freiburg.

pluspunkt: Kindheit ist für viele Menschen Synonym für Glück. Jugend bezeichnen viele als die schönste Zeit im Leben. Sind depressive Kinder und Jugendliche nur traurige Einzelfälle?

Rabenschlag: Die Häufigkeit von Depressionen bei Kindern und Jugendlichen ist nicht sehr hoch. Bei kleinen Kindern, die noch nicht in die Schule gehen, rechnet man so ungefähr mit einem Prozent eines Jahrgangs. Bei Schulkindern, das heißt sechstes bis zwölftes Lebensjahr, sind es ungefähr zwei bis drei Prozent, bei Jugendlichen etwa 15 Prozent. Dabei ist zu beachten: Unsere Diagnosen sind so definiert, dass wir depressive Symptome über einen Zeitraum von sechs Monaten nachweisen müssen. Verhaltensauffällige Kinder mit einzelnen depressiven Symptomen tauchen in der Depressionsstatistik nicht auf. Würde man sie dazuzählen, käme man auf viel höhere Zahlen. Was wir als Depressionen im Kindesalter bezeichnen, ist nur die Spitze des Eisbergs.

pluspunkt: Was ist depressiv, und worauf lassen sich Depressionen bei Kindern und Jugendlichen besonders im Hinblick auf ihre Erfahrungen mit Schule zurückführen?

Rabenschlag: Hintergründe und Ursachen von Depressionen sind vielfältig. Man stellt sich das am besten so vor: Die depressive Reaktionsfähigkeit eines Menschen ist im Grunde genommen etwas ganz Ähnliches wie die Fähigkeit, bei Infekten Fieber zu produzieren. Das ist eigentlich eine sehr sinnvolle Einrichtung der Natur. Sie zwingt den Betroffenen zur Kurskorrektur. Als Ursache oder Auslöser für depressive Entwicklungen von Kindern in der Schule kommt Folgendes in Betracht: Eine wachsende Zahl von Schulkindern hat in ihrer sozialen Entwicklung überwiegend eine Zweierbeziehung erlebt. Diese Kinder haben nicht gelernt, sich in einer Gruppe zu behaupten und sich an der Gleichaltrigengruppe zu orientieren. Sie erleben Schule als Stressor, was bei ihnen auf Dauer Depressionen auslösen kann. Zweitens wirkt sich in der Schule zunehmend die Weltsicht der Eltern aus, wonach Lebenserfolg vom Schultyp und Leistungsstatus abhängt. Diese Sichtweise führt zu chronischer Überforderung vieler Schüler, die möglichst hohe Schulabschlüsse bringen müssen. Drittens begreifen Lehrkräfte manchmal nicht, dass das soziale Überleben in der Gruppe für Kinder im Schulalltag oft viel wichtiger ist als ihr Zensurenniveau. Sie merken nicht, dass ein Kind ausgegrenzt oder ständig gehänselt wird und als Folge eine Depression entwickelt. Viertens wird häufig unterschätzt, wie negativ sich problematische, meist depressive, desorganisierte Lehrerpersönlichkeiten auf Schüler auswirken können.

pluspunkt: Warum wird eine kindliche Depression von Eltern oder Lehrkräften vergleichsweise selten erkannt?

Rabenschlag: Eine ganze Reihe von kindlichen Verhaltensauffälligkeiten gehen mit Depressionen einher. Ein klassisches Beispiel ist die Schulphobie: Ein Kind hat Bauchweh, wenn es in die Schule soll. Seine Schulphobie hat aber mit der Angst vor der Schule wenig zu tun, sondern ist vielmehr ein depressives Symptom. Kindliche Depressionen können sich unter einer Maske verstecken. Und es gibt viele Masken, zum Beispiel Bauchweh, Angst, Aggressivität mit Destruktivität, Magersuchterkrankungen, Teilleistungsstörungen.

pluspunkt: Wie gefährlich ist eine unerkannte Depression?

Rabenschlag: Wenn Kinder oder Jugendliche, die bereits seit über einem Jahr an den milderen Symptomen einer depressiven Entwicklung (Dysthymie) gelitten haben, plötzlich eine depressive Episode erleben (Double-Depression), so ist die Prognose ganz besonders schlecht. Für sie besteht ein großes Risiko, dass ihr Leiden im Jugendalter in eine chronische depressive Entwicklung übergeht, die unter Umständen bis ins Erwachsenenalter reicht. Wird eine Depression nicht erkannt, kann das im schlimmsten Fall für ein Kind im Suizid enden.

pluspunkt: Auf welche Frühsymptome oder Verdachtszeichen einer kindlichen Depression sollten Lehrkräfte sensibilisiert sein?

Rabenschlag: Das Wichtigste sind die versteckten Mitteilungen: Suizidphantasien, Suizidandeutungen. Gefährdete Kinder und Jugendliche geben ständig Zeichen, zum Beispiel indem sie etwas schwarz umrahmen oder ein Kreuz malen. Wer eine kindliche Depression frühzeitig erkennen will, muss auch darauf achten, ob ein Kind auffallend schüchtern ist. Das gilt vor allem für Mädchen. Ihre Scheu wird häufig als mädchentypisch fehlinterpretiert. In diesem Zusammenhang sollte man wissen, dass bei Mädchen ab der Pubertät die Häufigkeit von Depressionen radikal ansteigt. Das hat unter anderem hormonelle Gründe. Bis zur Pubertät findet man hingegen häufiger depressive Jungen. Als weiteres wichtiges Verdachtszeichen gilt die erhöhte Kränkbarkeit eines Kindes. Zum Beispiel, wenn ein Schüler für eine Arbeit eine Drei statt einer Zwei erhält und extrem verletzt reagiert. Ein zusätzlicher Aspekt, den man bei Jungen nicht übersehen darf, sind aggressive und vor allem destruktive Verhaltensweisen. In depressiven Verstimmungen erleben es Jungen regelrecht als Kick andere zu quälen. Wenn in Raufereien vor allem Quälerisches gegenüber Mitschülern auftaucht, ist das hochverdächtig. Ein weiteres Symptom: Ein Kind wirkt, als sei überhaupt kein Antrieb, kein Funken Lebenskraft mehr in ihm. Es kommt morgens immer zu spät oder fehlt häufig im Unterricht.

pluspunkt: Was kann eine Lehrkraft tun, um diesen Kindern und Jugendlichen zu helfen?

Rabenschlag: Das Beste ist, die Lehrkraft spricht erst einmal alleine mit dem Kind. Erhält sie von ihm Andeutungen und Hinweise, die den Verdacht auf eine Depressionskrankheit erhärten, sollte sie sich an eine kompetente Person im Bereich der Schule wenden, zum Beispiel den Vertrauenslehrer oder Schulpsychologen. Der nächste Schritt wäre, den Eltern eine therapeutische Behandlung ihres Kindes nahe zu bringen. Das ist schwierig. Lehrkräften empfehle ich meist, den Eltern gegenüber deutlich zum Ausdruck zu bringen, dass ihr Kind gesundheitlich nicht mehr in der Lage ist, am Unterricht teilzunehmen. Lehrkräfte sollten Eltern in diesem Fall dringend empfehlen, einen Kinderarzt aufzusuchen.

pluspunkt: Die Zunahme schwerer Verhaltensstörungen bei Schülern ist mit einem typischen Lehrerthema verbunden: der chronischen Überforderung im Schulalltag, dem Burn-out-Syndrom. Wie können Lehrkräfte ihren Unterricht gestalten, um nicht selbst Opfer einer schleichenden Depression zu werden?

Rabenschlag: Lehrkräfte tun gut daran, in ihrem Unterricht für ein möglichst stressfreies Arbeitsklima zu sorgen, das Depressionen verhindern kann. Die wichtigsten Aspekte sind: Erstens klare und sachbezogene Strukturierung der Zeit, der Aufgaben und der Rollen, zweitens saubere, intakte, helle und lärmabgeschirmte Arbeitsräume, drittens häufige positive Rückmeldungen, Vermeiden von Kränkungen und Ungerechtigkeiten, viertens keine Vermischung von persönlicher und sachbezogener Ebene, fünftens Gruppenziele formulieren, Cliquenbildungen entgegentreten, sechstens keine Toleranz gegen Intoleranz, zum Beispiel gegen Gewalt und Drogen.

Prinzipiell sollten sich Lehrkräfte schneller weigern, ein verhaltensauffälliges Kind weiter zu unterrichten, wenn es keine psychologische oder kinderpsychiatrische Hilfe bekommt. Würden Sie nicht auch ein Kind mit Fieber, Erbrechen oder einer ansteckenden Erkrankung nach Hause schicken? Das verlangt von der Lehrkraft Zivilcourage. Aber ohne das Nein der Lehrkraft kommen wir nicht voran.

pluspunkt: Wo erhalten Lehrkräfte Rat und Hilfe, wenn sie mit verhaltensauffälligen Kindern im Unterricht selbst nicht mehr zurechtkommen, und wohin können sie sich wenden, wenn sie sich über kindliche Depressionskrankheiten weiter informieren wollen?

Rabenschlag: Supervisionsgruppen sind genau der Ort, wo man Probleme wie Angst vor der Klasse ansprechen kann. Die haben sehr viele Lehrkräfte und darüber muss man sprechen. Hilfreich kann auch der Kontakt zu einer Balint-Gruppe sein. Adressen von Balint-Gruppen erhält man bei Psychotherapie-Instituten oder psychosomatischen Ambulanzen. Mit medizinischen und psychologischen Fragen über kindliche Depressionskrankheiten wenden sich Lehrkräfte am besten an schulpsychologische Dienste, an Erziehungsberatungsstellen oder kinderpsychiatrische Ambulanzen.

Mit Dr. med. Ulrich Rabenschlag sprach pluspunkt-Mitarbeiterin Gabriele Mosbach.

Zum Weiterlesen: Wenn Kinder nicht mehr froh sein können. Depressionen bei Kindern erkennen und helfen, Ulrich Rabenschlag unter Mitarbeit von Rudolf Heger, Verlag Herder Freiburg im Breisgau 2000,  192 Seiten, EUR 12,50

Vorstehender Beitrag wurde uns freundlicherweise von der Redaktion der Zeit pluspunkt zur Verfügung gestellt, in dessen Ausgabe 4-2003 dieses Interview veröffentlicht wurde. Herausgegeben wird pluspunkt vom Bundesverband der Unfallkassen. Der Verlag und Vertrieb wird von der Universum Verlagsanstalt vorgenommen. Interessierte finden pluspunkt in der Linkliste der vom ABA Fachverband empfohlenen Zeitschriften unter NAGEL-Redaktion -> Fachzeitschriften.

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