NAGEL-Redaktion – „Das Positive ist es, was uns an den Abgrund bringt“ oder Warum ein Fachverband Zustände nicht gesundbeten darf

(Kolumne aus: DER NAGEL 57/1995)

Von Rainer Deimel

Meine eigene Rolle innerhalb des Verbandes erscheint mir als ein günstiger, weil praktischer Aufhänger, einmal mehr verbandliches Handeln zwischen Theorie und Praxis zu reflektieren; eine Rolle, die breit interpretierbar ist: Experte für alles und nichts, Politiker und Neutrum, versehen mit Leidenschaft und immer hart an der Grenze zum „Ausgepowertsein“. Eine solche Reflexion ist keine Nabelschau; dient sie doch vielmehr dazu, Zusammenhänge zwischen dem Verband als solchem und denen, die sich ihm als Mitglieder und MitstreiterInnen angeschlossen haben, zu hinterfragen, Perspektiven für die nächsten Jahre zu beleuchten und eventuell eine Diskussion in Richtung „Strategien für die Zukunft“ anzuregen.
Nachdenken über die Pädagogik der neunziger Jahre provoziert, wie Nachdenken über Handeln mit Menschen immer provoziert hat. Ich komme dabei auf einige provokante Thesen.
Pädagogik ist immer geneigt, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen und sich dabei gleichzeitig zu glorifizieren. Seinen Ausdruck findet dies zum Beispiel in der Funktionalisierung von Pädagogik und Jugendarbeit durch die Politik: Politik ist augenscheinlich nicht in der Lage, Probleme menschengerecht zu lösen; Politik hat es vornehmlich in den letzten zehn Jahren geschafft, die Gesellschaft weitgehend zu entsolidarisieren. In der Folge treten konsequenterweise Probleme auf: zunehmende Ausgrenzung von Arbeitslosen, alleinerziehenden Müttern und anderen. Die Kluft zwischen arm und reich wird immer breiter. Der „private Ellbogen“ übernimmt das Zepter (Selbstverwirklichungs-Raserei). Hier und da spitzen sich Problemsituationen dramatisch zu: vermehrte Suchttendenzen, steigende Kriminalität, zunehmende Gewalt, Ausweitung rechtsradikaler Tendenzen. Ich bin davon überzeugt, dass Albert Scherr recht hat, wenn er der Auffassung widerspricht, dass Gewalt nicht automatisch „mitten aus der Gesellschaft“ kommt (wie Politik gern glauben machen will), sondern im Zuge von Deklassierung entsteht. Bei nicht zu übersehendem Handlungsbedarf ist Politik dann geneigt, sich Pädagogik als Handlangerin zu bestellen. Und Pädagogik ist gern bereit, sich derart funktionalisieren zu lassen. Dementsprechend bescheinigt Hartmut M. Griese aus sozialwissenschaftlicher Sicht der Pädagogik eine (inzwischen) eher reaktionäre Rolle (vgl. Hartmut M. Griese: Wider die Re-Pädagogisierung …, in: Deutsche Jugend 7/8, 42 Jg. 1994, S. 310 ff.). Griese sieht Versäumnisse in Politik, Wirtschaft, Ökologie usw., wobei die Pädagogik sie sich zu eigen macht und mit Lösungen prahlt, die zu erbringen sie nicht imstande ist.
Pädagogik kann in ihrer Umgebung günstige Einflüsse entwickeln; Machtverhältnisse kann sie nicht verändern. „Eine Gesellschaft, in der humane Lebensbedingungen und damit sinnvolle Zukunftsperspektiven vorliegen, braucht sich um eine Pädagogik junger Menschen wenig Gedanken zu machen.“ (Griese, a.a.O., S. 311) Pädagogik blendet Wirklichkeit aus und gibt sich in Bezug auf politische Realitäten Illusionen hin. Wie anders ließe sich sonst der Versuch interpretieren, mithilfe immer wieder neuer Konzepte die Disziplin zunehmend verschleiert zu atomisieren? Griese hat eine Auflistung vorgenommen, aus der ich nur einige „Konzepte“ benennen will: Friedenserziehung, Umwelterziehung, Kulturerziehung, Anti-Rassismus-Erziehung usw. Das Kurioseste, was mir kürzlich untergekommen ist, war der Begriff „Gaumenpädagogik“. Geht es hierbei darum, Kinder zu „kritischen und reflektierten EsserInnen“ zu erziehen. M.E. haben alle Ansätze ihre Berechtigung. Allerdings kann kein Ansatz für sich reklamieren, bestehende Formen und Methoden zu ersetzen. Eine ähnliche Diskussion gab es bereits vor über zehn Jahren im Zusammenhang mit Sozial- und Kulturpädagogik. Alle Ansätze gehören in eine einheitliche Disziplin, sind konstitutive Teile einer pädagogischen Konzeption, von der geschlechtsspezifischen Arbeit angefangen, über Erlebnispädagogik bis hin zu Schule und Freizeit. Dieses Bewusstsein müssen sich PädagogInnen zunehmend zu eigen machen und beginnen, entsprechend ihr Profil zu entwickeln.
Eine Basisanforderung professionellen Handelns in der Pädagogik ist der Verzicht auf Erziehung. Der Widerspruch, der sich aufgrund der Nähe der Begriffe ergibt, scheint mir auflösbar: der griechische Begriff „paid-agogós“ impliziert den Erwachsenen, der jungen Menschen zur Verfügung steht, um sie bei Unsicherheiten zu schützen und zu leiten. Schließt „Pädagogik“ das Partizipationsprinzip mit ein, wird dieses bei Verwendung des Begriffs „Erziehung“ ausgeschlossen: Erziehung meint die außengeleitete Formung der Persönlichkeit junger Menschen nach bestimmten Vorstellungen und Motiven. Erziehung kann nie professionell sein, Pädagogik hat dazu gute Chancen.
Pädagogik hat die Aufgabe, junge Menschen und ihre Motivlage zu verstehen, ihnen gegenüber empathisch zu sein, Zusammenhänge herauszuarbeiten und mit ihnen Lösungsansätze zu entwickeln. Pädagogik bietet Orientierungshilfen sowie Raumaneignungs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Pädagogik grenzt nicht aus. Besondere Chancen erblicke ich dabei in der bestehenden Offenen Arbeit. Pädagogik hat einen Bildungsanspruch. Der Begriff „Bildung“ ist seit Ende der sechziger Jahre zunehmend der Schule überlassen worden, wobei selbst diese sich inzwischen mit diesem Idiom abmüht. Dabei ist leicht belegbar, dass professionelle Pädagogik Aneignungsmöglichkeiten in Hülle und Fülle bieten kann: Aneignung von sozialen und kulturellen Kompetenzen sowie Aneignung von ansonsten vorenthaltenen Räumen. Diese Bildungsarbeit integriert Experimente und Innovation.
Pädagogik hat sich gegenüber der Konsum- und Leistungsgesellschaft abzugrenzen. Es geht ihr nicht um Beschäftigung, Betreuung und Unterhaltung auf niedrigstem Niveau. Das leistet die Unterhaltungsindustrie besser. Pädagogik nimmt gesellschaftliche Veränderungsprozesse zur Kenntnis. „Eine (…) Pädagogik, die … die gesellschaftlichen Bedingungen des Aufwachsens und die Zukunftsperspektiven der Heranwachsenden negiert, die weiter an einem irrelevanten und idealistischen Erziehungsbegriff festhält oder eine Re-Pädagogisierung fordert, die sich angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen weiter ausdifferenziert und atomisiert und damit pädagogisierend und entpolitisierend, d.h. ideologisch wirkt und gesellschaftliche Ursachen der aktuellen Probleme verschleiert, die ihre Bemühungen um einen allgemeinen Bildungsbegriff als Herzstück jeder Pädagogik zugunsten des Erziehungs-, Lern- und Qualifikationsbegriffs aufgibt, die sich als empirische Wissenschaft forschungsethisch wenig Gedanken macht um die Thematik ‚Verstehen oder Kolonialisieren?‘ und damit die Folgen ihrer Forschung für die Praxis und die Betroffenen ausklammert, ist als theoretische Wissenschaft, als Forschungsdisziplin und als auf Handeln abzielende Sozialtechnik ‚am Ende‘.“ (Griese, a.a.O., S. 316)
Die pädagogische Praxis und mithin ihre Zusammenschlüsse, die Fachverbände, haben ihre Kolonialisierungstendenzen zu überprüfen, ggf. ihre Rolle als innergesellschaftliche Entwicklungshelfer aufzugeben. Die Fachverbände wirken wie ein Katalysator, stützen Autonomiebestrebungen, helfen mit, nachdenklich und selbstkritisch zu machen, die Dinge in Bewegung zu halten; sie halten sich von dem gegenwärtigen „Betroffenheits-Kult“, dem offensichtlich die „professionelle“ Politik zum Opfer gefallen ist, fern, was nicht bedeutet, dass sie ihre soziale und gesellschaftliche Kompetenz nicht permanent reflektieren und weiterentwickeln. Sie erkennen ihre Rolle (im Sinne von Paulo Freire) als „Politiker und Künstler“. Diese Rolle impliziert eben, Zustände nicht gesundzubeten, äußerst sensibel für gesellschaftliche Vorgänge zu sein, aber auch Gelassenheit zu üben, Grenzen zu erkennen (Hermann Giesecke: „‚Ganzheitlichkeit‘ und Professionalität schließen sich aus.“) und Funktionalisierungstendenzen wahrzunehmen. Um weiterhin für Bewegung zu sorgen, halte ich es für unumgänglich, dass Fachverbände nicht aufhören, zu ketzern und gemeine und hinterhältige Fragen zu stellen. „Das Positive ist es, was uns an den Abgrund führt,“ hätte Adorno zu ergänzen gehabt. Wer versucht, Positives zu sagen, sollte sich eventuell einmal Gedanken über die Rente machen. Die Zukunft gehört den Ketzern und Narren.

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