NAGEL-Redaktion – Bewegungsmangel -Störquelle für eine Balance von Lernen und Leben bei Kindern

Aus dem Rhythmus geraten
Von Klaus Hurrelmann

Kinder haben heute keine Kinderkrankheiten mehr. Akute Infektionskrankheiten, die noch vor einer Generation vorherrschten, sind durch moderne Medikamentierung fast völlig zurückgedrängt worden. Auch die vorherrschenden chronischen Erkrankungen sind dank einer sehr guten Diagnose, Behandlung und Nachsorge, bei Kindern selten. Auf den ersten Blick ist die junge Generation heute so gesund wie noch nie, wenn uns auch die wachsenden Probleme bei Stoffwechselkrankheiten und Allergien zu denken geben sollten.

Deswegen lohnt sich der zweite Blick, und der offenbart eine sehr problematische Konstellation. Inzwischen zeigt die Forschung, dass mehr Kinder und Jugendliche gesundheitliche Störungen aufweisen, die im Schnittbereich zwischen Körper, Psyche und Umwelt liegen. Beeinträchtigungen des Immunsystems, der Sinneskoordination und der psychischen und sozialen Belastungsregulation werden auffälliger. Kinder mit dem Hyperaktivitäts-Syndrom und Übergewicht sind zunehmend in Kindergärten und Schulen zu finden. Viele dieser Störungen haben eine genetische, in der Persönlichkeit tief verankerte Komponente, die aber nur deshalb zum Zuge kommt, weil psychische, soziale und ökologische Schutzfaktoren verloren gegangen sind. Bei Kindern mit erheblichen Gesundheitsstörungen im psycho-, sozio- und ökosomatischen Bereich sind die elementaren Prozesse des Austauschs der inneren mit den äußeren Lebensbedingungen aus dem Rhythmus geraten. Diese Kinder haben ihre Lebenstüchtigkeit und ihre Kompetenz eingebüßt, sich mit Körper, Seele, sozialer und physischer Umwelt angemessen auseinander zu setzen.

Der gemeinsame Nenner aller Störungen hat heute drei Ausgangsfaktoren: Fehlernährung, Bewegungsmangel und falsches Stressmanagement. Die Konzepte von Prävention und Gesundheitsförderung in Kindertageseinrichtungen und Schulen kreisen deswegen um jene Trias von elementaren gesundheitlichen persönlichen Merkmalen. Die Erkenntnis ist klar: Über die Beeinflussung des Bewegungs- und Ernährungsverhaltens und das Training in einem kompetenten Stressmanagement lassen sich sehr viele der Probleme bearbeiten, die mit dem schlecht trainierten Immunsystem, der fehlenden Anregung und Schulung der Sinne, der Verbesserung der motorischen Koordination, des Abbaus von Aufmerksamkeitsdefiziten und Hyperaktivität sowie der Stärkung von Konfliktfähigkeit und Frustrationstoleranz zu tun haben.

Die vielleicht entscheidende Störquelle für die gelingende Balance von Risiko- und Schutzfaktoren bei Kindern und Jugendlichen sehe ich heute in dem Mangel an alters- und körperangemessener Bewegung. Bewegung reguliert einerseits die Nahrungszufuhr und den Kalorienverbrauch, sie trägt andererseits aber auch zum Stressabbau und zur Abfuhr innerer Spannungen und Aggressionen bei.

Angemessene Bewegung ist so gesehen das wichtigste Medium der körperlichen und psychischen Entwicklung, es ermöglicht die Erkundung und Aneignung der sozialen und physikalischen Umwelt, sorgt für die Koordination aller Sinneserfahrungen und ist der Motor für die gesamte körperliche, psychische und soziale Entwicklung eines Kindes.

Kinder haben einen natürlichen Bewegungstrieb, der heute offensichtlich durch eine unglückliche Gestaltung ihrer sozialen und räumlichen Lebenswelt eingeengt und gezähmt wird. Wenn Achtjährige täglich neun Stunden sitzen und ihre aktive Bewegungszeit nur eine Stunde beträgt, gerät der gesamte Stoffwechselhaushalt ebenso durcheinander wie das natürliche Hungergefühl und die Koordination ihrer Sinne. Haltungs- und Koordinationsschwächen, Seh- und Hörstörungen, Übergewicht und Allergien sind die Konsequenzen dieser ungesunden Verhaltensweisen. Durch übertriebene Sauberkeit und Hygiene wird auch die Fähigkeit des kindlichen Immunsystems geschwächt, körpereigene Widerstände zu erzeugen.

Alle sensiblen Konzepte der Gesundheitsförderung setzen aus diesen Gründen auf die Förderung von Aktivität und handelnder Tätigkeit einschließlich der Kunst, Aggressionspotenziale spielerisch aufzunehmen, zu kanalisieren und freizugeben, etwa durch Musik, Kunst und Theater, aber auch durch Gestaltung von Schulhöfen und Spielplätzen.

Diese Ansätze der Gesundheitsförderung sind inzwischen zu einer wichtigen Voraussetzung für Bildungs- und Unterrichtsprozesse geworden. Kindergärten und Schulen, welche die körperlichen, psychischen und sozialen Voraussetzungen von Bildung und Lernen übersehen, erzielen auch keine guten Resultate.

Lern- und Leistungsbereitschaft können bei Kindern und Jugendlichen nur geweckt werden, wenn sie sich körperlich, psychisch und sozial wohl fühlen. In diesem Sinne gehören Gesundheitsförderung und Leistungsförderung unbedingt als eine Einheit zusammen.

Die „Erlebnispädagogik“ von Kurt Hahn hat diese Erkenntnis schon in den 1920er-Jahren anschaulich auf den Punkt gebracht. Es wird Zeit, diese Konzepte wieder zu entdecken und sie auf die heutigen Bedingungen in Kindergarten und Schule zu übertragen.

Klaus Hurrelmann ist Professor an der Universität Bielefeld – Mitglied im Fachbeirat des ABA Fachverbandes. Vorstehender Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift „Erziehung und Wissenschaft“ 12/2003 der GEW entnommen. Eingestellt auf diese Internetseite wurde er im Dezember 2003.

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