NAGEL-Redaktion – Abenteuer – nur im Kinderbuch?

Von Christiane Richard-Elsner

„So lebe ich jetzt“ von Meg Rosoff ist ein mehrfach preisgekröntes Kinderbuch, das sowohl in den angelsächsischen Ländern als auch in Deutschland ein wirtschaftlicher Erfolg war. Es handelt von einem fünfzehnjährigen, magersüchtigen Mädchen aus New York, das einen Sommer bei der Verwandtschaft in England verbringen soll. Die drei Cousins und die Cousine leben auf einem abgelegenen Hof mit Tieren und einem Gemüsegarten. Sie gehen nicht zur Schule, sondern lernen selbstständig, kaum kontrolliert durch ihre Mutter. Diese ist als Friedensaktivistin sowieso dauernd unterwegs und verschwindet dann aus der Handlung. Denn ein Krieg, dessen Gründe und Fronten bis zum Schluss unklar gehalten werden, aber wohl durch den New Yorker Bombenterror 2001 inspiriert ist, bricht aus und unterbricht alle Verkehrsverbindungen. Die Isolation der Jugendlichen auf ihrem paradiesisch anmutenden Hof wird durch Seuchengefahr noch weiter getrieben. Das alles ist zunächst nicht angstbesetzt, sondern wirkt wie die einzige Möglichkeit, dem krankmachenden Leben in einer Patchworkfamilie und dem Gehacke innerhalb der Peergroup in der Schule zu entfliehen und ein selbstbestimmtes Leben zu leben. Radikal wird hier vorgeführt, was die Anziehungskraft kommerziell erfolgreicher Kinderbücher ausmacht: Selbstbestimmung, die Möglichkeit, seine Umwelt selbst zu gestalten, kaum beeinflusst durch Erwachsene. Wobei Umwelt sowohl die natürliche als auch die soziale Umgebung meint. Das bedeutet nicht, das Erwachsene nicht vorkommen, aber nicht als diejenigen, die die Kinder an die Hand nehmen und ihnen die Welt zeigen, also überspitzt gesagt: Eine Welt ohne Pädagogen.

Dieses Muster findet sich z.B. in den „Pippi Langstrumpf“-Bänden von Astrid Lindgren. Auch die „Fünf Freunde“ in der gleichnamigen Reihe von Enid Blyton kommen problemlos ohne pädagogischen Beistand aus, wenn sie sich auf Verbrecherjagd begeben. Pippi Langstrumpf ist ein mutterloses, dafür bärenstarkes Mädchen, dessen Vater als Seemann leider unabkömmlich ist. Die Eltern der „Fünf Freunde“ haben, wenn die Kinder in den Ferien aus dem englischen Internat kommen, nie Zeit, sich um die Kinder zu kümmern, die deshalb ungestört Bösewichte aller Art jagen können, die sich pünktlich zum Ferienbeginn einstellen. Diese Radikalität der Arrangements, mit denen Autoren Freiheit für ihre kindlichen Protagonisten schaffen, findet man nicht immer. In der deutschen Kinderkrimireihe „TKKG“ von Stefan Wolf gehen die jugendlichen Helden nach dem Schulunterricht auf Verbrecherjagd, genauso wie die Kinder in Thomas Brezinas „Tiger-Team“-Reihe. Auch die „Wilden Kerle“ von Joachim Masannek sind nur nachmittags wild. Die „Wilden Hühner“ der Reihe von Cornelia Funke finden ihr Gleichgewicht in ihrer Bande und an ihrem Rückzugsort, einem Wohnwagen im Wald, der sie aufatmen lässt, diesmal nicht von der Verbrecherjagd, sondern von den Verwicklungen der Realität, in der Eltern eben nur begrenzt Geborgenheit geben können. Vielleicht reichte der Freiraum, den Kinder in Deutschland durch die Halbtagsschule bisher hatten, und eine Umwelt, in der man auch als Kind mit dem Fahrrad, zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln mobil sein kann, bisher als Kern aus, um Handlungen zu entwickeln, die sich zumindest so abspielen könnten.

Lesen bildet. Lesen fördert die Sprachkompetenz. Durch Bücher lernen Kinder Wörter und Ausdrücke kennen, die sie bisher in ihrer Umgebung nicht bewusst wahrgenommen haben. Lesen ist mit weit mehr Aktivität verbunden als das Fernsehen. Nur mit eigener Konzentration werden die Worte erfasst, aus denen im Gehirn Bilder produziert werden, die der Leser mit dem Gelesenen assoziiert. Abstrakte Gedanken können über Bücher weit besser transportiert werden als über Fernsehbeiträge. Im Buch kann die Innenwelt der Handelnden ausgedrückt werden. Insbesondere Kinderbücher regen deshalb zur Auseinandersetzung mit den Gefühlen und Gedanken der handelnden Personen an. Es erleichtert, die eigenen, möglicherweise unguten Gefühle auch bei anderen wiederzuerkennen und dadurch besser annehmen und bewältigen zu können. Anerkannte Autoren und Autorinnen von Kinderbüchern wie Astrid Lindgren oder Cornelia Funke verstehen es, spannende und unterhaltsame Handlungen in Verbindung zu bringen mit den alltäglichen Gedanken und Gefühlen, die jeder von sich selbst kennt. Diese Stärke der Belletristik wird im Film nicht annähernd erreicht.

Einrichtungen wie die „Stiftung Lesen“, aber auch Lehrer und viele Eltern fördern zu Recht die Leselust von Kindern. In einigen Büchern wird sogar das Lesen und der Umgang mit Büchern zu einem Thema, wenn nicht sogar zum zentralen Thema gemacht. Bibliotheken sind beliebte Schauplätze von Handlungen. In der „Tintenherz“-Trilogie von Cornelia Funke sind Bücher der Lebensinhalt der Heldin und ihres Vaters. Buchhelden können sogar in das reale Leben versetzt werden bzw. Leser in die Buchwelt. Die Trilogie endet aber gar nicht bücherfreundlich. Die Heldin und ihre Familie befinden sich in einer mittelalterlichen, magischen Buchwelt, in der so gut wie niemand liest, Gewalt an der Tagesordnung ist, insgesamt aber überschaubare Verhältnisse herrschen. In dieser Welt weiß jeder, wie die Nahrungsmittel und die Güter des täglichen Bedarfs hergestellt werden. Alle Angelegenheiten werden über persönliche Kontakte geregelt. Die Heldin fühlt sich in dieser Welt viel wohler als im Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts und beschließt, dort zu bleiben.

Kinderbücher werden auch in unserer Zeit, in der Kinder über soviel Geld verfügen wie nie zuvor, vor allem von Erwachsenen für Kinder gekauft. Trotzdem, wenn ein Buch erfolgreich sein soll, muss es auch gern gelesen werden, sonst wenden sich auch Erwachsene als Käufer anderen Autoren oder Genres zu. Gehen wir also davon aus, dass Kinderbücher, wenn sie einen großen kommerziellen Erfolg haben, Vorstellungen und Träume von Kindern aufnehmen und wiedergeben. Erfahrene ehemalige Kinderbuchleser und heutige Kinderbuchkäufer wissen, dass viele Kinderbücher von beiden Geschlechtern gleichermaßen gern gelesen werden. Dennoch gibt es Kinderliteratur, die sich vorwiegend an Mädchen richtet, und eine mit der Zielgruppe Jungen. Das heißt, auch die Träume von Jungen unterscheiden sich zum Teil von denen der Mädchen. Allen gemeinsam ist aber aktives Handeln der kindlichen Helden in der fiktiven Welt.

Typische Mädchenbücher sind eher in der wirklichen Welt angesiedelt. Beziehungskonflikte nehmen einen großen Raum ein. Obwohl nur ein Bruchteil der deutschen Mädchen ein Internat besucht, spielen Internate als Schauplätze eine große Rolle. Sie haben den Vorteil, dass die Kinder viele Konflikte unter sich ausmachen können. Pferdebücher sind der Inbegriff von Mädchenbüchern. Die Mädchen haben eine innige Beziehung zum Tier und können sich in ihrer Verantwortung für das Tier bewähren. Die vielen Personen, die auf einem Reiterhof zusammentreffen, geben Raum für Beziehungskonflikte. Die Umgebung von Reiterhöfen sowie Ausritte bieten eine Begründung für einen Aufenthalt in der Natur und Schauplätze für Abenteuer, die weniger dramatisch ausfallen als die in typischen Jungenbüchern. Mädchenbücher spiegeln wider, dass Mädchen in der heutigen Welt leichter als Jungen Freiräume finden, in denen ihre Träume angesiedelt werden können. Dies korrespondiert damit, dass Mädchen die derzeitigen Kindheitsvorstellungen von Erwachsenen eher als ihnen gemäß empfinden und im Bildungssystem erfolgreicher sind als Jungen.

Generationen von Jungen verschlangen die Bücher von Karl May. Geschrieben wurden sie im ausgehenden 19. Jahrhundert für eine Gesellschaft, die gerade ihre nationale Einheit gefunden hatte und sich bewusst war, dass der Westen mit seinen Werten auch noch den letzten Winkel der Erde dominierte. Die Bücher von Karl May spielen im Wilden Westen der USA, in China oder im Osmanischen Reich, dort, wo die Welt noch ungeordnet war. Stets kämpft eine Reihe edler Männer für die gute Sache, angeführt vom Ich-Erzähler, dem unfehlbaren Helden, der jede Situation meistert. Realistischerweise darf man annehmen, dass weniger das auch deutschtümelnde Pathos dieser Bücher die Ursache ist, dass sie jetzt kaum noch jugendliche Leser finden, als eher die Tatsache, dass sie auf den ersten hundert Seiten selten zur Sache kommen und umfangreiche Beschreibungen von Landschaft und Charakteren enthalten. Heutige Jugendliche sind harte Schnitte und ein schnelles Vorantreiben der Handlung im Film und in Computerspielen gewöhnt.

Denn an Pathos fehlt es heutigen erfolgreichen Jungenbüchern, den Fantasyromanen, nicht. Das Überwinden von Gefahren, die Treue unter Freunden und Verbündeten spielen eine große Rolle. Ebenso wie bei Karl May sind Gut und Böse klar erkennbar voneinander geschieden, wobei das Böse unter Einsatz des eigenen Lebens besiegt werden muss. Es hat sich eine eigene Phantasiewelt herauskristallisiert, die von verschiedenen Autoren genutzt wird, abgeleitet von dem Fantasyroman schlechthin: der „Herr der Ringe“-Trilogie von John Tolkien. In dieser Welt gibt es als Handelnde neben Menschen auch Elfen und Zwerge und andere Wesen mit magischen Fähigkeiten. Die Geschichten spielen abseits einer geordneten Zivilisation. Die Natur bietet Schauplätze zum Kämpfen, zum Verstecken und für idyllische Lager; sie kann sich den Handelnden mit feindlichen Wesen entgegenstellen oder unerwartet helfend Überlebensmöglichkeiten bieten. Festzuhalten ist, dass viele erfolgreiche Jungenbücher heute nicht in wirklichkeitsnahen Umgebungen angesiedelt sind. Haben typische Jungenträume keinen Raum in der modernen Wirklichkeit? Vielleicht ist dies auch ein Grund, dass Jungen im derzeitigen Bildungssystem schlechter abschneiden.

Kinder beiderlei Geschlechts sind neugierig. Für Kinder ist die ganze Welt voller Geheimnisse, die jene nach und nach preisgibt. Ein Geheimnis zu lüften ist mit positiven Gefühlen verbunden, mit Spannung, Atemlosigkeit, Erregung, mit dem Gefühl, in einer Sache aufzugehen und den Rest der Welt um sich zu vergessen. Die positiven Gefühle beim Lüften von Geheimnissen, der Neugiertrieb bei Kindern ist die von der Evolution zur Verfügung gestellte Lernhilfe für Kinder, ohne die wir Menschen als Art nicht überleben könnten. „Verstecken“ und „Suchen“ ist ein Spiel, das bereits Kleinstkinder fasziniert. Alle Krimis bauen darauf auf, dass der Held, die Heldin oder eine Gruppe von Helden ein Geheimnis aufdecken. Aber auch fremde Welten, wie sie in historischen Romanen für Kinder vorkommen, oder Phantasiewelten sind geheimnisvoll und packen die kindlichen Leser, weil das Verhalten der Umwelt oder der Personen aus dem bisherigen Erfahrungshintergrund nicht erklärlich ist. Bekannte Beispiele sind „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ von Michael Ende, Otfried Preußlers „Räuber Hotzenplotz“ und „Krabat“, von Cornelia Funke „Drachenreiter“, die bereits erwähnte „Tintenherz“-Trilogie sowie viele andere  Bücher – und natürlich aus dem englischsprachigen Bereich die „Harry Potter“-Reihe von Joanne K. Rowling. Auch die wahrscheinlich erfolgreichste Kinderbuchschriftstellerin überhaupt, Astrid Lindgren, hat mit „Ronja Räubertochter“ eine Welt geschaffen, die abseits der Erfahrung von Kindern spielt. Neben den Geheimnissen, die Phantasiewelten enthalten, haben sie den Vorteil, dass Kinder oder die Heldin, der Held, mit denen sich die Kinder identifizieren, eine machtvollere Rolle haben, als Kinder sie in der realen Welt einnehmen.

Aber die Gegenwelt in den „Harry-Potter“-Bänden oder in der „Tintenherz“-Trilogie begeistert nicht nur Kinder. Phantasiewelten sind nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, sondern auch bei Erwachsenen beliebt, wie der Hype um die „Herr-der-Ringe“-Filme zeigte. Einfachheit, Überschaubarkeit, Selbstversorgung, Naturnähe, persönliche Beziehungen statt Anonymität, einfache Einteilungen in Gut und Böse, religiös-magische Weltdeutungen, die über dem modernen Effizienzdenken stehen: diese Motive finden sich nicht nur in Kinderbüchern immer wieder. Der imaginäre Aufbau einer Gegenwelt begleitet die Moderne seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert. Zivilisationsflucht und damit Kritik der Moderne war schon immer ein Kennzeichen moderner Literatur. Besonders in der Romantik wurden Gegenwelten zur hässlichen, effizienzbedachten, fortschrittsliebenden damaligen Gegenwart aufgebaut. Phantasie, zu Zeiten der Romantik gefeiert, wird auch heute von vielen Pädagogen als Qualitätskriterium für Kinderliteratur angesehen. Dennoch haftet ihr etwas Weltfremdes an, wird sie nur auf dem Boden der Literatur oder im Kunstunterricht gewünscht. Denn wir alle profitieren ja von der modernen Welt. Und diese ist auf Effizienz ausgerichtet, sodass für kindliche Phantasien eben nur zu genau festgelegten Stunden in genau festgelegter Umgebung Zeit ist. Sind phantastische Gegenwelten im Kinderbuch ein Ersatz für nicht mehr vorhandene Freiräume in der modernen Welt?

Interessanterweise werden auch Bücher, die gar keine phantastischen Umgebungen präsentieren, mit dem Vorwurf konfrontiert, weltfremde Harmonie zu präsentieren. Es ist die Rede von „Wir Kinder aus Bullerbü“ und „Ferien auf Saltkrokan“ von Astrid Lindgren. Viele Kinder, vor allem Mädchen, lieben diese Bücher, weil sich in diesem Buch eine ideale Spielwelt auftut. Bullerbü, ein winziges Bauerndorf im Schweden der zwanziger Jahre, und Saltkrokan, eine Schäreninsel in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, sind überschaubar, die Menschen sind freundlich, für Kinder gibt es tausend und eine Möglichkeit, kreativ zu spielen. Die Menschen in Bullerbü leben von dem, was sie selbst erzeugen. Tiere sind ein selbstverständlicher Bestandteil des Alltags.

Bevor man diese Bücher aber als zwar wunderschöne, aber weltfremde Idyllen abtut, sollten Erwachsene sie noch einmal lesen und ihr Urteil nicht nur auf den (schönen) Erinnerungen an die Lektüre in der eigenen Kindheit aufbauen. Als Erwachsener liest man plötzlich weniger Harmonie heraus. Ja, man könnte die Geschichten aus Bullerbü durchaus umschreiben zu einem sozialkritischen Buch, über ein Kinderleben, das heutigen Kindern nicht zugemutet werden kann. Jeden Tag müssen die Kinder – zum Glück sind sie hier in einer Kindergruppe, aber was wäre, wenn sie allein wären? – den  kilometerweiten Weg zur Schule laufen. Im einzigen Haus unterwegs lebt ein gewalttätiger und alkoholkranker Schuster, zu dem die Kinder häufig geschickt werden, um Schuhe flicken zu lassen. Im Winter werden die Kinder von der Lehrerin, wenn auch schlechten Gewissens, in den Sturm geschickt. Nein, die Eltern holen die Kinder nicht von der Schule ab. Immerhin kommen sie ihnen mit dem Schneepflug entgegen.

Harte Mitarbeit auf dem Hof gibt es auch. Müssen die Kinder nicht nachmittags den weiten Weg ins Dorf noch einmal machen zum Einkaufen? Die Kinder müssen drei Tage im Frühjahr Rüben verziehen. Nur wer auf dem Land groß geworden ist, weiß, was das bedeutet. Zum Verfüttern an die Kühe im Winter wurden früher Wasserrüben im zeitigen Frühjahr eingesät. Wochen später, wenn der Samen aufgegangen ist, also junge Pflänzchen viel zu dicht aus dem Boden schauen, müssen die überzähligen ausgezogen werden. Diese öde Arbeit auf einem kahlen Feld, vielleicht bei Nieselregen und Kälte, ist das Langweiligste, was man sich vorstellen kann; eine Feldreihe erscheint endlos. Die Kinder auf Bullerbü haben sich die Zeit mit Sprachspielen verkürzt. Aber nach heutigen Begriffen ist das Kinderarbeit, wie sie in der dritten Welt gang und gäbe ist und vom Westen angeprangert wird.

Spielen die Kinder aus Bullerbü denn harmonisch? Wenn man „Bullerbü“ als Erwachsener liest, kommen einem doch einige Bedenken! Ist nicht der Älteste der Angeber, der immer alles bestimmen möchte und meistens seine Spielideen durchsetzt? Die Kinder haben häufig Auseinandersetzungen, sie streiten sich. Es dauert manchmal lange, ehe überhaupt gespielt wird. Für heutige Erwachsene ist Kinderstreit anstrengend. Wie weit gehen die Kinder? Verletzen sie sich im Streit? Geht etwas kaputt? Was denken die anderen von meinem Kind? Vor allem aber interpretieren Erwachsene Kinderstreit in dem Sinne, wie sie selbst Konflikte austragen. Wenn Erwachsene streiten und dabei laut werden, ist das Maß schon ziemlich voll, und die Folgen der Wut sind nicht nach fünf Minuten vergessen.

Und wie empfinden die kindlichen Leser das? Als normal. Die Auseinandersetzung mit anderen Kindern gehört zum Leben dazu. Aufwallende Gefühle von Neid, Wut, Missgunst, Sich-unterlegen-Fühlen, Empörung, Angst, aber auch Freude und überschäumende Fröhlichkeit sind kurz und heftig. Sie werden, je jünger das Kind ist, um so direkter geäußert und schnell wieder vergessen. Was in der Erinnerung überwiegt, ist die Freude am gemeinsamen Spiel, an Entdeckungen und kleinen Abenteuern. Auf Saltkrokan ist die Kindergruppe nicht so geschlossen, wie man es aus der Erinnerung meint. Stina, die Jüngste, ist oft ausgeschlossen, weil sie zu klein ist. Sie hätte gern so einen schlauen Hund, wie Tjorven ihn hat. Sie hat aber nur ein Lamm, das als Spielkamerad nicht so vielfältig einsetzbar ist wie ein Hund. Infolgedessen hat sie auch einen niedrigeren Status in der Kindergruppe. Auch Tjorven und Pelle spielen durchaus nicht so harmonisch, wie man es in Erinnerung hat. Jedes Kind hat seine Eigenheiten, fühlt sich mal beleidigt oder ausgeschlossen oder sucht bewusst das Alleinsein.

Wer als Erwachsener „Bullerbü“ und „Saltkrokan“ liest, bei dem kommt manchmal das Gefühl von Langeweile auf. Ist es denn wirklich so spannend, dass die Kinder mit dem Boot auf den kleinen See fahren? Wo ist der Spannungsbogen, wenn die Kinder allein in der Scheune übernachten? Oder es regen sich Gefühle des Unbehagens. Pelle ist schon wieder allein im Wald? Ist sein Sozialverhalten nicht gut genug, dass er es nicht die ganze Zeit mit den Anderen aushält? Die arme Stina, sie hat anscheinend eine alleinerziehende Mutter, die froh ist, wenn das Mädchen im Sommer bei ihrem Großvater ist. Da können die anderen Kinder sie doch mitspielen lassen!

Vielleicht entwickelt sich bei den erwachsenen Lesern auch die befreiende Erkenntnis, dass sie diese Bücher als Kind geliebt haben und sie unbedingt auch so spielen wollten. Vielleicht erinnert sich der Leser und die Leserin auch daran, dass sie selbst durch andere Kinder ausgeschlossen wurden, dass das aber nicht so schlimm war. Ebenso konnte der Leser oder die Leserin es als Kind durchaus mit dem Gewissen vereinbaren, andere Kinder auszuschließen, sie zu beschimpfen oder zu beleidigen. Weltfremd ist nicht „Bullerbü“, sondern die Annahme, harmonisches Kinderspiel komme ohne Auseinandersetzungen und ohne negative Gefühle aus. Kinderspiel trainiert das „wirkliche Leben“, das Lösen von Konflikten, das Einüben von Kompromissen als Voraussetzung für gelungenes Miteinander.

Es scheint selbstverständlich zu sein, dass Kinder in Kinderbüchern eine aktive Rolle haben. Romane für Erwachsene handeln ja auch von den Aktivitäten von Erwachsenen. Nur gibt es eine Diskrepanz zwischen der Rolle von Kindern in der modernen Welt und der der Erwachsenen. Jeder Erwachsene muss sein Leben selbstständig organisieren und übernimmt häufig noch Verantwortung für andere, ob im Privatleben oder im Beruf. Er oder sie hat Gestaltungsspielraum; Kinder erleben sich als abhängig von Erwachsenen. Besonders im modernen Leben gibt es kaum noch Möglichkeiten für Kinder, unabhängig von Erwachsenen zu gestalten. Ob als wohlmeinende Pädagogen, als genervte Bezugspersonen oder als anonyme Stadtplaner schränken Erwachsene den Freiraum für Kinder immer weiter ein. Ein Blick auf das, was in erfolgreichen Kinderbüchern nicht thematisiert wird, ist durchaus erhellend: Obwohl Kinder die Geborgenheit durch ihre Eltern mehr als alles andere benötigen, wird dies in Büchern eher selten thematisiert; sie wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Die Beziehung zu den Eltern steht so gut wie nie im Vordergrund, oft aber die Suche nach Eltern, wenn diese fehlen. Die Inhalte von pädagogischen Angeboten, seien es der Schulunterricht, Sportangebote oder Aktionen wie der museumspädagogische Rundgang durch ein Schloss kommen nicht vor. Nur die Pausen oder der Schulweg dienen als Setting, in dem etwas „passiert“. Medienkonsum wird höchstens erwähnt, aber dies auch nur selten, und schon gar nicht seitenlang detailliert geschildert. Leistungen, die Eltern erbringen, wie die Autofahrt zur Schule, werden nicht thematisiert. Sie sind als Gelegenheit für „Erlebnisse“ nicht relevant. Im Gegenteil erwachsen sogar Handlungen daraus, dass verwöhnte und überbehütete Kinder im Verlauf des Buches gezwungen sind, alte Bequemlichkeiten und Egoismen abzulegen, um zu einer Gruppe dazugehören zu können. Auch hier stößt man auf die Präferenz für das aktive Tun. Wenn man den Tagesablauf eines heutigen Kindes zugrundelegt, mit vier Stunden Medienkonsum und acht Stunden Schule, bleibt wenig Zeit für eigene Erlebnisse, die es wert sind, mitgeteilt zu werden.

So kann man die „Harry-Potter“-Bände nicht nur als eindrucksvolle Imagination von Joanne K. Rowling verstehen, sondern als eine Gegenwelt zur realen Schulwelt. Vielleicht bietet das normale Schulleben in Großbritannien mit Ganztagsschule, eingeschränkter Mobilität von Kindern im Alltag, Fast Food und Medienkonsum so wenig Gelegenheit zur Aktivität, dass spannende Kinderbücher mit Bezug zum realen Leben nicht denkbar sind. Kinderbücher, die zwar nicht die Verkaufslisten anführen und wohl eher von Erwachsenen für Kinder in wohlmeinender Absicht gekauft werden, behandeln Problemlagen, in denen Kinder und ihre Familien sich befinden können. Es geht um Scheidung, Arbeitslosigkeit, Umzug, Gewalt in der Familie, die Mitgliedschaft in Sekten, sexuellen Missbrauch, Krankheit, Drogen oder Tod. Diese Bücher sind wichtig und tragen dazu bei, dass Kinder Verständnis für diese Probleme entwickeln, sie vielleicht, wenn sie selbst betroffen sind, besser einordnen und sich mit ihren Bedürfnissen geeignet artikulieren können. Die Handlungen dieser Bücher spielen auf dem harten Boden der Realität. Häufig geht es um problematische Erwachsene und Kinder als Opfer. Aber sind dies die letzten Abenteuer, die Kinder und Jugendliche in einem einigermaßen realistischen Setting erleben können? Überspitzt gefragt: Repräsentieren durchgeknallte Erwachsene, die ihre Selbstverwirklichung betreiben, ihren Platz in der Unüberschaubarkeit der modernen Welt suchen und deshalb den ebenfalls ihren Platz suchenden Kindern keinen Halt geben können, den letzten Dschungel, in denen sich heutige Kinder selbstständig bewähren müssen? Gibt es im globalen Dorf keine Rückzugsgebiete mehr, in denen Kinder „Abenteuer“ erleben können, um dann abends wieder in die Geborgenheit der Familie zurückzukehren? Haben Kinder und Jugendliche noch Chancen, sich in ihrem realen Umfeld zu bewähren, zum Beispiel im freien Spiel mit anderen Kindern oder beim selbstständigen Umgang mit der Welt der Erwachsenen? Oder fehlen Kindern „Spiel“-räume, in denen sie ganz konkret ohne ständige Kontrolle durch Erwachsene ihre Welten aufbauen, durch ihre Hände, durch ihr Herangehen an ihre Umwelt, Spielräume, in denen sie sich ihre Ziele stecken, ausprobieren, was funktioniert und was nicht, mit anderen Kindern oder allein ihre Träume umsetzen und Spaß dabei haben können?

Phantasie ist nicht nur eine Sache von vorzeigbaren Kunstwerken oder von Erwachsenen geschriebenen Büchern. Träume vom eigenen Haus können schon durch eine Bude mit ein paar Stöcken im Gebüsch verwirklicht werden, Träume vom Heldentum durch Rollenspiele mit Weglaufen, Verstecken und Raufen. In ihren Träumen geht es Kindern vor allem um Unabhängigkeit, Selbstständigkeit, das Durchstehen von Abenteuern, das Bewähren in Gefahr und das Aushalten von schwierigen Situationen und natürlich um Geheimnisse. Bücher erlauben Fluchten aus der Wirklichkeit, und sie erhellen diese Wirklichkeit, wenden sie um und lassen sie besser verstehen. Aber die Wirklichkeit selbst muss Kindern auch Raum lassen, eigene Vorstellungen zu verwirklichen.

Die vielen rosagekleideten Prinzessinnen und modisch durchgestylten Prinzen, zum Teil schon mit Bauchansatz auch in bürgerlichen Schichten, die zur Schule und wohldosiert zu Freunden gefahren, in pädagogische „Angebote“ gesteckt werden und ansonsten im eigenen, mit viel Spielzeug versehenen Zimmer vor dem Computer hocken und die hohen Leistungserwartungen ihrer Eltern erfüllen müssen, wollen wahrscheinlich auch aktiv sein. Wenn sie das nicht in ihrer Kindheit dürfen, was passiert dann? Werden sie in der Lage sein, kreativ die Anforderungen der Zukunft zu erfüllen? Denn diese sind noch höher als die an die jetzige Generation gestellten: Wohlstand für alle, trotz Klimawandel, Ressourcenmangel und ständig steigender Weltbevölkerung. Oder werden die heutigen Kinder in Depression und Aggression flüchten oder als Vierzigjährige ausbrechen, um in Griechenland oder Mecklenburg-Vorpommern Schafe zu hüten?

Und die Protagonisten des eingangs erwähnten „So lebe ich jetzt“? Das Buch behandelt die Entwicklung der Heldin von der auf sich selbst bezogenen Magersüchtigen zu einer Jugendlichen, die in den Unmenschlichkeiten des Krieges erwachsen werden muss und in extremen Situationen Verantwortung für andere übernimmt. Sie und ihre Verwandten leben nach dem Krieg als junge Erwachsene in einer unwirtlichen Welt, zurückgezogen auf ihrem überschaubaren Bauernhof – als Selbstversorger.


Dr. Christiane Richard-Elsner ist Mitglied im ABA-Fachbeirat.

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